Salta. Wir sind in der katholischsten und orthodoxesten Region Argentiniens angekommen. Während im ganzen Land Demonstrationen für und gegen die Legalisierung der Abtreibung stattfinden, sehen wir in Salta nur Demonstrationszüge „für die beiden Leben“. Fast niemand trägt hier ein grünes Halstuch, grüne Haare oder grüne Fingernägel, um so Zustimmung zur Legalisierung ausdrücken. Uns wird berichtet, dass schon Autoscheiben eingeschlagen wurden, wenn jemand sein grünes Tuch im Auto liegen lassen hatte. Nur Sprayen an der Hauswand „pro aborto“ scheint eine sichere Meinungsäußerung zu sein. Trafen wir vorher Feministinnen und Linke in Cordoba, sind wir nun am anderen Extrem angelangt.
Wir wollen ein bißchen länger bleiben, denn in Salta ist das Wetter angenehm, und es gibt Spanischkurse. Matthias möchte gern besser und fließender Konversation führen können. Ich würde gern die Zeitformen korrekt anwenden und unbewusste Fehler eliminieren. Wir buchen uns ein Airbnb-Zimmer bei einem Pärchen namens Daniel und Ana, um das Spanisch sofort anwenden zu können. Wir fühlen uns sofort wohl. Gleich beim Frühstück geht der Tag auf Spanisch los. Daniel und Ana fragen uns, ob es uns gut geht, ob wir gut geschlafen haben, ob wir was brauchen. Und der Riesenflachbildfernseher bringt die aktuellen Nachrichten zum Frühstückstisch- natürlich auch auf Spanisch. Momentan dreht sich alles um die Abtreibungsdebatte.
Wir waschen ab, packen unsere Sachen und fahren mit dem Bus in die Stadt. Das ist eine Angelegenheit für Fortgeschrittene, denn die Haltestellen sind nicht oder nur mit einem kleinen Schild an der Straße markiert und eine Verbindungsübersicht von A nach B gibt es auch nicht. In der Sprachschule gehen wir getrennte Wege: Matthias lernt mit Carmen, ich mit Graciela. Zwei Stunden pro Tag reichen völlig aus, danach dampft das Hirn. Nicht nur wegen der Fremdsprache, sondern auch wegen der Themen: Abort, Unabhängigkeit der Medien, Politik, Drogenhandel, Korruption und Menschenhandel. Meine Lehrerin ist eine kleine linke Revolutzerin und hat viele spannende Sachen zu erzählen.
Abends sind wir wieder bei Daniel und Ana. Der Riesenflachbildfernseher hat Neuigkeiten. Die ehemalige linke Regierung habe Millionen von Euro an Bestechungsgeldern angenommen. Ein Chauffeur, der hohe Beamte hin- und hergefahren hat, habe alles in Tagebüchern minutiös dokumentiert. Im Fernsehen kann man live mitverfolgen wie jeder einzelne beschuldigte Beamte hochgenommen wird. Die Journalisten belagern die Wohnungseingänge, im Hintergrund dramatische Musik. Unsere Gastgeber Ana und Daniel freuen sich, dass endlich die Korruption ans Licht kommt. Die vorherige Regierung hätte Gelder rausgeschmissen, die nie da waren. In der Sprachschule frage ich nach. Die Tagebücher des Chauffeurs seien keine wirklichen Beweise, woher sollte der Fahrer wissen, wieviel Geld in den Taschen war. Sicherlich sei die Regierung nicht korruptionsfrei gewesen, aber die jetzige Untersuchung sei am ehesten eine politisch motivierte Aktion. Außerdem habe Argentinien noch ein ganz anders Problem: Die Medien seien monopolistisch und in den Händen der aktuellen Regierung.
Zurück beim Abendbrot dokumentiert der Riesenflachbildfernseher die Debatte zum Abtreibungsgesetz live im Parlament. Stundenlang reden die Politiker, das Gesetz wird die ganze Nacht diskutiert. Nachts gegen 3 Uhr haben alle gesprochen und stimmen ab. Nein. Abtreibung bleibt weiterhin außer bei Vergewaltigungen illegal. Doch gleich am nächsten Tag berichtet das Fernsehen noch mehr über den Korruptionsskandal. Die Ex-Präsidentin soll zur Anhörung kommen. Jeden Tag bringt der Fernseher mehr Zeugen, es werden weitere Politiker angeklagt. Wir haben als Außenstehende den Eindruck, die Veröffentlichung der Tagebücher ist orchestriert. Warum werden sie jetzt veröffentlicht, wo es den Argentiniern schlecht geht und das Land in einer ökonomischen Krise steckt? Schuldzuweisung? Ablenkung? Zufall?
Die Angeklagten werden hier zackig nach nur wenigen Tagen inhaftiert. Bei uns würde so ein Prozess Jahre dauern. Wie kann das sein? Nächstes Jahr sind Wahlen. Und wer jetzt als Argentinier glaubt, die vorige Partei hätte Millionen veruntreut, wählt die wahrscheinlich nicht mehr. Am letzten Abend in Salta sagt Daniel, dass es verrückt sei. Die Hälfte der Argentinier glaube immer noch, die Tagebücher seien unecht. Oder die aktuelle Regierung wolle das Image der vorigen beschmutzen. Aber man müsse den Tatsachen in die Augen blicken. Wenn das nicht getan wird, könne das Land nicht vorankommen.
Für uns bleibt das Gefühl, dass wir die politischen Zusammenhänge nicht ausreichend erfassen können. Zu viele Verwicklungen in der Vergangenheit und zu viele familiäre Bande zwischen den Politikern, machen es uns in der kurzen Zeit als Außenstehende zu komplex. Unser Eindruck ist, dass es momentan in der argentinischen Gesellschaft nur schwarz und weiß gibt. Ausgeglichene Nachrichtenerstattung? Fehlanzeige. Jeder unterstützt seine persönliche Meinung mit den jeweiligen Freunden und Medien, die ihm zustimmen – wie überall auf der Welt.
Wir verabschieden uns aus Salta wie aus den anderen Städten mit einem weinenden Auge. Herzliche Menschen gibt es in Argentinien überall.